Start auf dem Ofenpass
Mit dem Postauto erreicht man den Ausgangspunkt der Wanderung, den Pass dal Fuorn, aus dem Engadin oder dem Val Müstair. Unsere Wanderung beginnt auf 2148 Meter Höhe und führt uns auf einem leicht ansteigenden Weg Richtung Osten durch Wälder und über Weiden. Der Weg steigt merklich an, sobald wir die Waldgrenze hinter uns lassen und uns dem Fuorcla Funtana da S-charl, dem höchsten Punkt unserer Wanderung, nähern.
Auf dem Fuorcla Funtana da S-charl
Auf dem 2392 Meter hohen Passübergang ins Val S-charl, einem Seitental des Unterengadins, überschreiten wir die Wasserscheide, die das Einzugsgebiet des Mittelmeer von jenem des Schwarzen Meeres trennt.
Pause auf der Alp Astras
Nach dem Abstieg zur Alp Astras, wo uns in der Alpsaison eine gastfreundliche Familie aus dem Südtirol mit einer wohlverdienten Jause / Marenda erwartet, setzen wir unseren Weg fort. Wir überqueren die noch friedliche Clemgia, die sich erst nach dem Dorf S-charl in einen wilden Fluss verwandelt, der häufig die umliegende Landschaft formt und die Strasse nach Scuol den Charakter eines temporären Provisoriums gibt.
Im God da Tamangur
Dann erreichen wir den God da Tamangur, den höchsten zusammenhängenden Arvenwald der Alpen – ein Ort, an dem viele eine besondere Magie spüren. Die uralten Arven, die hier bis zu 700 Jahre alt werden können, erzählen von einem langen Leben inmitten eines rauen Klimas. Die knorrigen, von Wind, Schnee, Stürmen und Lavinen gezeichneten Bäume verbreiten eine Stimmung, die den Wanderer unwillkürlich innehalten lässt. In der kurzen Vegetationsperiode dieser Höhenlage wächst alles langsamer, und auch das Sterben ist hier ein langsamer Prozess: Wenn grosse Arven sterben, bleiben sie hier oben noch lange liegen, bevor sie ganz zersetzt sind.
Von Arvenzapfen und Tannenhähern
Für den Wanderer, der die Arve von anderen Nadelbäumen unterscheiden möchte, gibt es einen einfachen Hinweis: Die Nadeln der Arve wachsen in charakteristischen Fünfer-Büscheln. Auf dem Waldboden finden sich überall die Überreste von Arvenzapfen, die auf den Fleiss der Tannenhäher hinweisen. Dieser Vogel, der sich von den nährstoffreichen Arvennüssen ernährt, legt im Herbst Vorräte für den Winter an, die er auch im hohen Schnee des alpinen
Winters wieder findet. Die Nüsse, die nicht wiedergefunden werden, keimen im nächsten Frühjahr und geben so neuen Arven das Leben. Dank seiner Ernährungsstrategie ist der Tannenhäher ein eigentlicher Gärtner oder Baumpflanzer. Den Tannenhäher finden wir übrigens im Logo des Schweizerischen Nationalparks wieder.
Der God da Tamangur als Symbol der Rätoromanen
Der God da Tamangur ist nicht nur ein Naturwunder, sondern auch ein Symbol für den Überlebenswillen der rätoromanischen Kultur und Sprache. In seinem Gedicht «Tamangur» von 1923 verglich der Dichter und Essayist Peider Lansel das Schicksal des damals stark bedrohten Arvenwaldes mit jenem der Rätoromanen. Heute inspiriert dieser mystische Ort weiterhin rätoromanische Künstler wie die Schriftstellerin Leta Semadeni und den Liedermacher Linard Bardill.
Am Ziel in S-charl
Wir verweilen in der stillen, fast ehrfürchtigen Atmosphäre des Waldes, bevor wir unseren Weg über Alpweiden zur Clemgia fortsetzen. Dem Fluss folgend, erreichen wir das Dorf S-charl, wo das einladende Restaurantterrasse des Hotel Crusch Alba uns empfängt. Zu lange können wir hier aber nicht verweilen, wollen wir doch das letzte Postauto um 17:15 Uhr erreichen.